
Rolf Rojeks Telefon stand nicht mehr still. Am ersten Tag schon zählte der Fanbeauftragte des FC Schalke 04 über 200 Protestanrufe. Am zweiten Tag trudelten die Briefe, Faxe und E‑Mails ein. Alte grimmige Männer, die noch die Meistertitel der Knappen in den dreißiger Jahren miterlebt hatten, kündigten ihre Mitgliedschaften, Fanklubs schickten ihre Dauerkarten zurück, jugendliche Allesfahrer drohten mit Boykott der Spiele. Rojek konnte sie gut verstehen, denn auch bei ihm „ging die Kinnlade nicht mehr runter, ich war bewegungslos, vor meinen Augen flimmerten diese Bilder“.
Diese Bilder, die Rudi Assauer zeigten, wie er Ende Mai 2000 vor die Presse trat, sich räusperte, mit einem Mal gar ein wenig schüchtern wirkte. Zuvor hatte das Gerücht die Runde gemacht, dass der Manager einen neuen Transfer verkünden wollte. Rojek dachte da „an Spieler wie Djorkaeff und Wosz, meinetwegen auch Matthäus oder Maradona. Egal wer!“. Dann sagte Rudi Assauer diesen Namen: Andi Möller. Und dann war es für ein paar Sekunden ganz still.
Die Empörung folgte, natürlich. Doch warum machte man so viel Aufregung um einen Spieler, der die Trikotfarben tauschen wollte? Bei all den anderen Weltenwanderern – Rolf Rüssmann, Ingo Anderbrügge, Rüdiger Abramczik, Stan Libuda oder Steffen Freund – hatte man Nachsicht walten lassen, zumeist hatten die Fans ihnen schon nach der ersten ehrlichen Grätsche im Training verziehen, dass sie je das königsblaue oder schwarz-gelbe Trikot übergestreift hatten.
Die Sache mit der Schutzschwalbe
Bei Andreas Möller war alles anders. Nicht nur, dass er beim Klub in der „verbotenen Stadt“ spielte, nein, er war in jenen Jahren zum Inbegriff eines Spielers ohne Integrität geworden. Wenn sich die Bundesligafans (Ausnahme: Dortmund und Frankfurt) Ende der Neunziger auf eine Sache einigen konnten, dann war es die grundehrliche Ablehnung des Andreas Möller. Sie nannten ihn „Heulsuse“ oder „Heintje“, und sie hatten ihre Gründe.
Da war die Sache mit der Schutzschwalbe im Spiel gegen den KSC anno 1995 und die seltsamen Aussagen danach („Bei jedem anderen Trainer wäre ich zum Schiedsrichter gegangen – bei Winnie Schäfer nicht“). Oder das seltsame Gebaren am Ende der Saison 1989/90, als sich Andreas Möller endorphingeschüttelt vor die Südtribüne des Westfalenstadions stellte und über Lautsprecher verkündete, dass er für immer und ewig Borusse sei. „Ich bin im Herzen hier“, sagte er. Und ich werde weiterhin für den BVB spielen.“ Wenige Tage später unterschrieb er bei Eintracht Frankfurt.
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Vor diesem Verhalten verblassten all seine Meriten. Wen interessierte es noch, dass Möller die Welt- und Europameisterschaft gewonnen hatte, mehrmals Pokalsieger und Deutscher Meister wurde, in der Champions League, im Uefa-Cup und sogar im Weltpokal triumphierte? Er hatte schon im Mai 2000 alles gewonnen, was man als Fußballer gewinnen kann. Das gelang nicht mal Franz Beckenbauer oder Lothar Matthäus.
„Am Tag, als Andi Möller starb“
Nun war alles anders – und doch alles wie immer. Die Schimpftiraden brachen über Andreas Möller herein, der gebetsmühlenartig einen Satz wiederholte: „Diesen Berg will ich jetzt besteigen, mit aller Macht, ich will es schaffen.“ Er wurde nicht gehört. In Dortmund nicht, denn dort wüteten sie viel zu laut, sie nannten Möller „Judas“ und „Verräter“ und richtig Kreative sangen: „Wer hat krumme Beine, Tore schießt er keine? Schwuler Andi Möller! Kinderpornostar!“ Auch in Gelsenkirchen ging seine Kampfansage unter, denn dort erinnerte man sich an den Stinkefinger, den Möller einst dem Schalker Anhang gezeigt hatte. Im Ohr hatten sie noch die Hymne „Am Tag, als Andi Möller starb“, die in der Melodie des bekannten Conny-Kramer-Liedes von Juliane Werding intoniert wurde.
Einer, der damals eine E‑Mail an die S04-Geschäftsstelle schickte, war Ramin Köhn. Er erhielt keine Antwort. Später schrieb er einen Text für die vierte Ausgabe von 11FREUNDE: „Man zelebriert seinen eigenen, kleinen Protest, dem Andi nicht auch nur den leisesten Ansatz von Beifall zu spenden, denn das ist das Mindeste, was man als ordentlicher Fußball- und Schalkefan tun kann“. Und Möller? Der sagte noch einmal: „Diesen Berg will ich jetzt besteigen.“
Es kam, wie zu erwarten war: Bei den ersten Heimspielen wurde der Neue mit Pfiffen und Transparenten empfangen, auf denen zu lesen war: „Möller, verpsiss dich“, „Feind bleibt Feind“ oder „Zecke Möller, willkommen in der weiß-blauen Hölle“. Sollte es immer so weiter gehen?
Am 23. September 2000 kam es im Westfalenstadion zum Wiedersehen mit den alten Spielkameraden und den Anhängern, denen Andreas Möller einst so etwas wie Vereinstreue vorgespielt hatte. „Rückkehr in die Hölle“, titelte nun die „Bild“. Zugleich berichtete die Zeitung von ausverkauften Taschentuchpackungen in Dortmunder Drogeriemärkten – 60.000 BVB-Fans wollten dem „Heulsuse Möller“ zuwinken.
Und auf der anderen Seite? Einige Anti-Möller-Banner zierten immer noch die Zäune im S04-Block, doch es waren tatsächlich weniger als noch zu Beginn der Saison. Es war ruhiger geworden. Auch, weil der Bundesligaalltag eingekehrt war – und sich Hass auf Dauer als eine ziemlich ermüdende Angelegenheit entpuppen kann. Und auch, weil Möller in den ersten Partien mehr als ordentlich agierte, er traf zwar nicht mehr so häufig wie noch zu Dortmunder Zeiten, doch er machte sich eine Sache zu eigen, die ihm in der Vergangenheit häufig abging: Er kämpfte.
Mit dem Spiel in Dortmund kam er endgültig auf Schalke an. Möller spielte beim 4:0‑Sieg im Westfalenstadion keine Weltpartie, er spielte keine Traumpässe, schoss keine Tore, doch er malochte auf dem Platz, er neutralisierte im Mittelfeld Miroslav Stevic und er war präsent. Ein paar Tage später tauchte ein neues Transparent auf. Auf diesem stand: „Kampfsuse“.
Eines Tages war das Trikot von Möller ausverkauft
Andreas Möller spielt lange nicht mehr, nach seiner Karriere hat er einige Jahre als Sportdirektor bei den Offenbacher Kickers gearbeitet. Zuletzt war er als Co-Trainer von Bert van Marwijk beim HSV im Gespräch. Vor einiger Zeit erinnerte er sich noch einmal in der „Sportbild“ an seinen Wechsel zum FC Schalke 04. „Das Wichtigste ist, sich den Fans zu öffnen, auf sie zuzugehen.“ Andreas Möller dachte da an sein erstes Treffen mit den S04-Anhängern in der Kneipe „Schalker Kreisel“. Damals, sagte Möller, sei es so still gewesen, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. „Irgendwann ist dann aber das Eis gebrochen.“ Und dann kam dieses eine Spiel gegen Borussia Dortmund. Andreas Möller bahnte sich nach dem 4:0‑Sieg zufrieden seinen Weg durch den Mikrofonwald. „Ich habe doch immer gesagt, dass das Westfalenstadion mein Wohnzimmer ist“, sagte er und lächelte. „Und so hat’s heute auch ausgesehen.“
Wenige Tage später klingelte auf der Geschäftsstellte wieder das Telefon. „Wir müssen dringend nachproduzieren“, sagte ein Mann aus dem Fanshop. Das Trikot mit der Nummer 7 war ausverkauft.
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